Der Ausbruch der Krankheit: Klinikaufenthalte in Tübingen

Meine MS begann, als ich 13 war. Das habe ich erst viel später erfahren. Im linken Auge tauchte ein weißer Schleier auf, so als ob ich mir mein Auge ausreiben müsste, um wieder gut zu sehen. Die Stelle wurde jeden Tag größer. Es gab einen weißen Fleck. Ich ging zum Augenarzt, der mir erst eine leichte Lesebrille verschrieb. Dadurch wurde es jedoch nicht besser. Innerhalb von zwei Wochen hatte sich der weiße Fleck zu einem großen weißen Loch ausgewachsen, auch rechts war ein wenig ein Schleier da. Nur am Rand des weißen Lochs konnte ich noch genau sehen. Die größten schwarzen Zahlen beim Augenarzt konnte ich nicht erkennen. Da wurde ich schleunigst in die Augenklinik Tübingen eingewiesen. Dort habe ich zum ersten Mal Cortison bekommen. Ich habe gelernt auf dem Bauch zu schlafen, weil das sehr schmale hohe Betten waren und ich Angst hatte vor dem Herunterfallen. Seitdem schlafe ich auf diese Weise.
Nach der überstandenen Punktion hatte ich keine Angst mehr. Ich war mir immer ganz sicher, dass alles wieder gut wird. Und obwohl ich wochenlang ohne Familie war, hatte ich kein Heimweh. Ich fand alles um mich herum interessant, das Klinikleben, die Mitpatienten. Nach acht Wochen habe ich wieder sehr gut sehen können.

Im nächsten Jahr 1962, ich war vierzehn, haben sich die Augen wieder verschlechtert. Wieder kam ich nach Tübingen, nun aber nicht in die Augenklinik, sondern merkwürdiger Weise in das Klinische Jugendheim. Das war eine kinder- und jugendpsychiatrische Abteilung. Die Ärzte haben sich also nicht hundertprozentig sicher in der Diagnose gefühlt.
Das war ein geschlossenes Haus, die Fenster waren abgeschlossen, ebenso die Türen nach draußen.
Als ich ankam, liefen gerade die Vorbereitungen für eine Faschingsfeier. Schon vorher war da ein Häuschen erbaut worden, worin gebastelt wurde. Das Häuschen sollte dann im Zentrum der Veranstaltungen stehen. Die Kostümierung lief unter dem Thema: Flugzeug-Notlandung in einer Oase. Dr.Lempp, der Chef der Klinik, kam als englischer Lord, viele waren Seeräuber oder Araber. Alle Kinder waren verkleidet. Da ich gerade zuvor angekommen war, musste bei mir improvisiert werden: Ich wurde mit weißen Betttüchern zur Griechin drapiert. Ein Brunnen war gebastelt worden, darin gab es Kakao. Am Tag des Faschings kam Micha, meine erste Liebe. Es saß ganz verloren herum, ohne Kostüm und gehörte nicht dazu. Da habe ich mich neben ihn gesetzt und mich um ihn gekümmert. Er war ein Arztsohn aus Sigmaringen, der zur Abklärung von anfallartigem Zuckungen eingewiesen worden war. Mir kam er sehr klug und selbstbewusst vor. Das erste, was er im Bastelhaus gemacht hat, das war sich einen Dietrich anzufertigen. Er wollte nicht abhauen, aber er wollte auch nicht ohne möglichen Ausweg eingeschlossen sein. Nach der Klinikzeit habe ich noch lange mit ihm Briefe gewechselt.

In meinem Zimmer war ich die Älteste, auch in der Station und habe eine Art Mami-Rolle übernommen. Ich habe den kleinen Buben vorgelesen und mit ihnen gespielt. Zum ersten Mal habe ich Kinder erlebt, die aus schlechten Verhältnissen kamen.
Als ich dann punktiert worden war und liegen musste, kamen alle zu mir und brachten kleine Geschenke. Ein kleiner Rabauke aus Berlin, der Icke, war besonders nett zu mir.
Bei diesen Problemkindern , Bettnässern, motorisch Auffälligen habe ich ein wenig den sozialen Hintergrund mitbekommen. Es waren mehrere Heimkinder darunter, wohl auch einige kriminell gewordene, was wir aber nicht wussten. Für mich war das wohl so etwas wie ein Realitätsschock. Es muss mir viel zu denken gegeben haben. Einerseits erlebte ich sie als Kinder, liebe Kinder, von denen einige mir danach noch Brief geschrieben haben. Und auf der anderen Seite waren da die offensichtlichen Probleme, die sie hatten.

Nach dieser Sensibilisierung in der Tübinger Jugendpsychiatrie habe ich von meinen bisherigen Berufsträumen, Zoologin zu werden, allmählich Abschied genommen. Ich war ein Fan von Michael Grzimek gewesen. Doch da ich mitbekam, dass ich gesundheitlich nicht sehr belastbar war, schien das in weite Ferne zu rücken. Die Tübinger Eindrücke ließen den Wunsch wachsen, erst Medizin zu studieren und dann noch Psychologie, ohne dass ich genau wusste, was das bedeutete. Jedenfalls wollte ich nun einen Berufsweg in diese Richtung einschlagen.